Fremdbestimmung und

Sachwalterschaft auf dem Prüfstand

Vertreter und Lobbyisten dieser Organisationen und Gesellschaften

fordern von den Kostenträgern die Sicherstellung der Finanzierung der oben genannten Einrichtungen.

Das bezeichne ich als mutwilligen

Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention!

In der eigenen Wohnung leben und über das eigene Geld bestimmen: Für Johanna Pichler (Namen geändert), 53 Jahre alt, blieb dies über 30 Jahre lang ein Wunschtraum. Denn so lange stand sie unter Sachwalterschaft.

 

Frau Pichler wurde nie gefragt, wie sie leben will. Aufgrund ihrer intellektuellen Beeinträchtigung traute man ihr ein eigenständiges Leben gar nicht zu. Mit Hinweis auf die bestehende Sachwalterschaft wurden Frau Pichlers Wünsche nach mehr Autonomie stets verweigert.

 

Mit dem Erwachsenenschutzgesetz 2018 änderte sich dies: Gemäß dem Grundsatz „Unterstützung statt Vertretung“ wird aktuell bis 2023 jede frühere Sachwalterschaft neu aufgerollt. Die zentrale Frage dabei: Ist die Sachwalterschaft, nun „gerichtliche Erwachsenenvertretung“ genannt, noch notwendig? Kann vielleicht auf eine andere Vertretungsmöglichkeit gewechselt werden, die den betroffenen Menschen mehr Selbstbestimmung über das eigene Leben überlässt?

 

Um eine Entscheidungsgrundlage zu bekommen, beauftragen die Gerichte Erwachsenenschutzvereine wie VertretungsNetz mit einem „Clearing“. Seit 2018 ist dies im Verfahren jeder neuen gerichtlichen Erwachsenenvertretung verpflichtend vorgesehen.

 

Erste kleine Erfolgsgeschichten

 

„Im Clearing erheben unsere MitarbeiterInnen das persönliche und soziale Umfeld der betroffenen Person: Welche konkreten Angelegenheiten sind zu besorgen, wo wird Unterstützung gebraucht, und wer könnte die betroffene Person unterstützen?“, erklärt Robert Müller, bei VertretungsNetz für fachliche Entwicklung und Schulung im Clearing zuständig.

 

„Behinderung entsteht nämlich erst dort, wo persönliche Defizite nicht mehr durch Unterstützung aus dem Umfeld ausgeglichen werden können“. Dieser Gedanke liegt auch der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde.

 

Im Fall von Frau Pichler empfahl man, die gerichtliche Erwachsenenvertretung aufzuheben. Das Gericht folgte der Empfehlung, so wie in ca. 85 % aller Fälle. Frau Pichler hat inzwischen ihre Cousine als ihre gewählte Erwachsenenvertreterin bestimmt. Diese unterstützt sie bei Behördenwegen und in der Vermögensverwaltung. Denn das sind die Bereiche, wo Frau Pichler noch unsicher ist. Über alle anderen Angelegenheiten entscheidet Frau Pichler allein – ihr Traum eines selbstbestimmten Lebens wird damit endlich wahr.

 

Erfolgsgeschichten wie diese bestätigen, wie wichtig die Reform des Sachwalterrechts war. Das obligatorische Clearing ist sehr effektiv: In 47 % aller Clearingberichte kann empfohlen werden, das Verfahren einzustellen, weil eine andere Art der Unterstützung oder eine andere Vertretungsform als die gerichtliche Erwachsenenvertretung gefunden wird.

 

Die meisten wählen ihre Vertretung nicht selbst

 

Doch leider gibt es auch Beobachtungen, welche mich mit Sorge erfüllen. Betrachtet man die Zahl der registrierten Vertretungen seit Mitte 2018, fällt auf: Es wurden fünfmal mehr „gesetzliche Erwachsenenvertretungen“ als „gewählte Erwachsenenvertretungen“ beschlossen.

 

Gesetzliche Vertretungen sind nicht so komplex und deshalb nicht so aufwändig in der Beratung – und damit günstiger. Nicht überall nehmen sich beratende Stellen die Zeit für individuelle und maßgeschneiderte Lösungen, wie es das Gesetz vorsieht.

 

„Das unterläuft aber die Zielsetzung des Erwachsenenschutzgesetzes, denn die gesetzliche Erwachsenenvertretung durch Angehörige bietet Betroffenen kaum mehr Selbstbestimmung, als bei einer Bestellung durch das Gericht“, warnt Robert Müller.

 

Bei gerichtlicher Bestellung werden wiederum die Wirkungsbereiche, für die eine Vertretung nötig ist, oft zu wenig konkret eingegrenzt. „Es bräuchte in solchen Verfahren einen professionellen Rechtsbeistand, der wenn nötig mittels Rekurs sicherstellt, dass die Grundsätze des neuen Rechts auch wirklich zur Anwendung kommen“, schlägt Müller eine Nachschärfung vor.

 

Mehr Erwachsenensozialarbeit dringend nötig

 

Das beste Gesetz kann in der Praxis nicht viel verändern, wenn die Bundesländer ihre sozialen Unterstützungsangebote nicht deutlich ausbauen. „Gerade wenn es um die Verwaltung von Finanzen geht, könnte man mit ganz einfachen und miteinander verzahnten Angeboten enorm viele Vertretungen vermeiden“, weiß Robert Müller, und bringt ein weiteres Beispiel aus der Praxis:

 

Manuela Hofbauer (Namen geändert) ist 56 Jahre alt und lebt seit vielen Jahren mit einer bipolare Störung. In manischen Phasen hat sie früher oft unkontrolliert eingekauft, deshalb wurde eine Sachwalterin für sie bestellt. Nun fühlt sich Frau Hofbauer aber stabilisiert, regelmäßig geht sie zu einer Therapeutin und nimmt ihre Medikamente. Ein Rückfall ist aber natürlich niemals ausgeschlossen.

 

Im Clearing  wurden mögliche Unterstützungsformen ausgelotet. Die Lösung: Frau Hofbauer bekommt ein „Betreutes Konto“ mit Kontoplan. Das Sparbuch erhält der Bruder zur Verwahrung. Eine mobile sozialpsychiatrische Betreuung unterstützt Frau Hofbauer bei Behördenanträgen, eine Heimhilfe hilft ihr in der Wohnung und beim Einkaufen. Die Erwachsenenvertretung für Frau Hofbauer kann damit aufgehoben werden.